Die älteste Antifaschistin Lüneburgs hat Geburtstag

Was für ein Leben – Wir gratulieren unserer Freundin Sonja Barthel zum 104. Geburtstag

Sonja mit 102 Jahren

Uns Falken verbindet Vieles mit dem Leben und der Persönlichkeit von Sonja Barthel – aus diesem Grund haben wir unserem Falken-Gruppenraum bereits auf unserer Unterbezirkskonferenz 2019 den Namen „Sonja Barthel Haus“ gegeben.

Sie steht mit ihrem Leben für Antifaschismus, positive und fortschrittliche Pädagogik und ein grundsätzlich optimistisches, sozialistisches Menschenbild.

Aber nun zu ihrem Wirken und ihrem nunmehr 104 Jahre währendem Leben. Der Text stammt aus der Feder von Peter Asmussen von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschist:innen, deren Mitglied Sonja seit 1949 ist.

Am selben 17. April 1917, als Wladimir Lenin im fernen Petrograd die sogenannten April-Thesen vortrug (Errichtung einer Republik auf Basis der Sowjets) und in Stockholm sich deutsche Sozialdemokraten mit Mitgliedern des russischen Arbeiterrates trafen, um über die Beendigung des Krieges zu beraten, wurde in der Berliner Teutonenstraße eine kleines Mädchen geboren. Ihre Eltern gaben ihr einen seinerzeit recht ungewöhnlichen Namen, einen russischen. Nicht ohne Grund, denn beide (Vater aus deutsch-nationalem Beamten-Elternhaus, Mutter aus dem jüdischen Besitzbürgertum) lebten für die sozialistische Idee, hofften auf den Sieg der russischen Revolution und auf eine baldige Beendigung des 1. Weltkrieges. „Sonja“ wurde das kleine Wesen benannt, „die Wissende und Weise“, „die Träumerin“, „die für die Wahrheit Kämpfende“.

Vielleicht auch ein Omen für ihren späteren Lebensweg:

Den Leitspruch der Aufklärung „Wissen ist Macht“ machte sie sich zu eigen, schon als Au-Pair-Mädchen in England während der 1930er-Jahre, später im Pädagogik-Studium in der DDR und anschließend in Lüneburg ab 1953 und sie lernte mehrere Fremdsprachen (darunter Esparanto).

Sonjas Mitgliedsbuch der VVN von 1949

Eine „Träumerin“ war sie ihr Leben lang, nämlich träumend von einer besseren Welt ohne Krieg, Ungerechtigkeit und Armut. Und sie versuchte, ihre Träume Realität werden zu lassen wie etwa 1936 in London, als sie in einem Rekrutierungsbüro vorstellig wurde in der Absicht, nach Spanien zu gehen, um die dort gegen Franco kämpfenden Antifaschisten/-innen tatkräftig zu unterstützen. Und auch für die Wahrheit kämpfte sie ihr Leben lang, als Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes schon ab 1949 und der Gewerk-schaft Erziehung und Wissenschaft ab 1954 (als

sie in den Schuldienst eintrat), auch der SPD und später in der Lüneburger Geschichtswerkstatt.

Aus der SPD trat sie 1999 wieder aus, als diese Partei den Krieg gegen Jugoslawien unterstützte, was mit ihrer antifaschistischen Haltung nicht zu vereinbaren war.

Neben diesen charakteristischen Eigenschaften besaß Sonja noch was, nämlich jede Menge „Massel“. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie als „Halbjüdin“ den Nazis immer wieder ein Schnippchen schlagen konnte und das dazugehörige (riesige) Quäntchen Glück hatte, um 1939/40 unentdeckt im Frankfurter Hochhaus der (ausgerechnet !) IG-Farben zu arbeiten, anschließend bei dieser Firma in Belgien und dann noch in Berlin die Gestapo-Vorladungen zu überstehen.

Sonjas zweites Leben begann mit der Befreiung im Mai 1945, Pädagogik-Studium und Lehrtätigkeit in Berlin, Umzug nach Lüneburg Ende 1952 – der Liebe wegen. Hier nochmaliges Studium (ihre DDR-Qualifikation wurde nicht anerkannt) an der provisorischen PH, nebenbei dort Gründung des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ SDS, Arbeit an einer zweiklassigen Volksschule in Lüneburg-Ochtmissen, bis sie 1959 endlich ihre 2. Lehramtsprüfung abgelegen durfte und anschließend in Lüneburg-Goseburg, dann an der Lüner Schule unterrichtete. Fünf Jahre später wurde sie – für 10 Jahre – „Ratsherrin“, Mitglied des Rates der Stadt Lüneburg. Ihr besonderes Interesse und ihr Engagement für die Spracherwerbs-probleme ihrer Schulkinder führte sie zur Sonderschule L (für lernbehinderte Kinder). Nun wurde sie im Alter von 55 Jahren erneut Studentin (Ausbildung zur Lehrerin im Bereich Sonderpädagogik- Sprachheilpädagogik), unterrichtete anschließend viele Jahre eine Sprachheilklasse und wurde nach Einführung der Sonderschule G (für geistig behinderte Kinder) deren Konrektorin (mit 61 Jahren!), wohin sie wegen ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit der Einrichtung der Lüneburger „Lebenshilfe“ berufen wurde.

Sonja bei einer Lesung ihres Buches „Lebenserinnerungen – Wie war das damals? Erzähl doch mal“

Ein weiteres Mal startete Sonja nach ihrer Pensionierung durch: Die lokale Geschichtsarbeit über die NS–Verbrechen stand für sie im Vordergrund und selbst als über 90-Jährige war sie auf Anti-Nazi-Kundgebungen (auch als Sprecherin) ebenso zu finden wie als Vortragende in Bildungseinrichtungen, zuletzt im März 2016  vor etwa 500 Schülern/-innen der Herderschule sowie im Juni desselben Jahres (nach Vollendung ihres 100. Lebensjahres!) vor der Literarischen Gesellschaft Lüneburg.

Und es wurde die Welt bereist, kaum ein Kontinent ausgelassen, Verwandten-besuche, Kontakte zu ihren Esparanto-Freunden/-innen gepflegt. Lange bevor der Terminus „Couchsurfing“ bekannt wurde, schlief sie bereits auf den Sofas ihrer Esparanto-Gastgeber rund um den Globus. Sprache? Kein Problem. Freunde/-innen aus aller Herren/Damen Länder waren bei ihr zu Hause zu Gast in ihrer Mehrgenerationen-Wohngemeinschaft in Lüneburg, wo sie wohnt mit Nicol und Georg und deren Kindern sowie, seit einem Jahr, einer Enkelin.

Kein Wunder also, dass bei ihrer Feier zum 100. Geburtstag über 160 Gäste aus vielen Staaten Europas und darüber hinaus zugegen waren. Was für ein Leben!

Gratulation der VVN-Kamerad:innen zu Sonjas 100stem Geburtstag

Sonja, wir wünschen dir und uns, dass du noch lange mit uns „die alten Lieder“

singen wirst (die immer noch aktuell sind), von „Avanti Popolo“ bis zu „Dem Morgenrot entgegen“ und dabei deine Stimme, wie immer bei diesen Anlässen, nicht zu überhören ist.

Das Cover von Sonjas Lebenserinnerungen

Ihre Lebenserinnerungen schrieb Sonja von ihrem 80. Geburtstag, als sie sich dazu ihren ersten Computer wünschte und fortan damit bis zu ihrem 90. Geburtstag daran schrieb. Pünktlich zu ihrer 90. Geburtstagsfeier lag das Buch, frisch gedruckt, für die Gäste vor. Gleichzeitig veröffentlichte sie es unter dem Titel „Wie war das damals, erzähl doch mal …“.

Diese Autobiografie kann bei der Lüneburger Geschichtswerkstatt bestellt werden unter:

info@geschichtswerkstatt-lueneburg.de

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