Überlebende der Todeslager Ozarichi besuchen Lüneburg

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschist*innen (VVN-BdA) Kreisvereinigung Lüneburg informiert in einer Pressemitteilung über den von ihr und dem AK Erinnerungskultur organisierten Besuch einer Delegation von Überlebenden des Todeslagers bei Ozarichi (Weißrussland). Wir geben hier die ungekürzte Pressemitteilung wieder:

Presseerklärung, 13. August 2018

Überlebende der Todeslager bei Ozarichi besuchen Lüneburg

Die Ozarichi-Delegation aus dem letzten Jahr (Quelle: VVN-BdA KV Lüneburg)

Als Kinder wurden sie Opfer eines der schwersten Verbrechen der Wehrmacht gegen Zivilisten überhaupt“. So bezeichnet der Historiker D. Pohl die 1944 bei Osaritschi (Belarus) errichteten Todeslager. Maßgeblich an diesem Kriegsverbrechen beteiligt: Die Lüneburger 110. Infanteriedivision. 74 Jahre später besuchen jetzt sechs Überlebende dieser Lager die Stadt, von der die Katastrophe einst ausging.

Mit ihrem Besuch folgen die drei Frauen und drei Männer im Alter zwischen 72 und 86 Jahren einer Einladung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) Lüneburg und des Arbeitskreises Erinnerungskultur an der Leuphana-Universität. „Mit unserer Einladung wollen wir den Opfern der NS Terrortaten die ihnen zustehende Wahrnehmung einräumen und die historischen Tatsachen ins Blickfeld rücken“, so Ulrike Waltemade, eine der Organisatorinnen des Besuches.

Zu diesen lange verdrängten Tatsachen gehört, dass die Wehrmacht 1940 u.a. in Lüneburg die 110. Infanteriedivision aufstellte. Von Anfang an beteiligte sich diese Einheit am deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Nahe der weißrussischen Ortschaft Osaritschi errichtete sie gemeinsam mit zwei anderen Divisionen im März 1944 einen Lagerkomplex, der als Todeslager diente. Dorthin deportierten die deutschen Soldaten rund 50 000 Zivilisten: Mütter kleiner Kinder, Kinder, Alte, Arbeitsunfähige, Typhuskranke – im Wehrmachtsjargon allesamt „nutzlose Esser“. Wer nicht schon während der Selektion und der Gewaltmärsche erschlagen oder erschossen wurde, den trieben die Soldaten in ein vermintes Sumpfgebiet ohne jeglichen Schutz durch Gebäude. Dort ließen die Soldaten ihre Opfer planmäßig verhungern, erfrieren und an Thyphus sterben.

Genaue Zahlen der durch dieses Massaker umgebrachten Menschen lassen sich kaum ermitteln. Während weißrussische Quellen von bis zu 20.000 Toten sprechen, werden allgemein etwa 9.000 Tote genannt. Auf Basis dieser Zahl geht der Historiker Christoph Rass „von bis zu 3.600 Todesopfern im Bereich der 110. Infanteriedivision“ (Gutachten 2017) aus. Wer diese Lager überlebte, verdankt seine Rettung der Roten Armee, die die Todeslager zügig befreien konnte.

Nach solchen schlimmen Erfahrungen mit Deutschland und Deutschen betrachten es die Gastgeber in Lüneburg alles andere als selbstverständlich, dass Überlebende der Todeslager jetzt die Einladung nach Lüneburg annahmen. Peter Raykowski von der VVN dazu: „Unsere heutigen Besucher und Besucherinnen waren damals Kinder. Selbst dem Tod knapp entronnen, haben sie neben sich Geschwister, Mütter oder Großeltern sterben sehen. Die Todeslager werden ihr ganzes Leben bestimmt haben. Für uns ist ihr Kommen eine großzügige Friedensgeste!“

Ein prekäres Faktum überschattet den Besuch der Überlebenden in Lüneburg: Am Gralwall steht ein nach dem 2. Weltkrieg errichtetes „Ehrenmal“ für die toten Soldaten der ehemaligen 110. I. D. Die von den Infanteristen Gequälten und Getöteten blendet das Denkmal aus. 1960 hat die Stadtverwaltung dieses Denkmal amtlich in ihre Obhut genommen – wovon sich die politischen Gremien bis heute nicht offiziell distanziert haben.

Die Besucherinnen und Besucher aus Belarus werden sich vom 21. bis 26. August in Lüneburg aufhalten. Ein vielfältiges Besuchsprogramm soll den Gästen interessante Begegnungen und Eindrücke ermöglichen. Höhepunkte sind u.a. eine russisch-sprachige Führung durchs Salzmuseum; der Rathausempfang durch Oberbürgermeister Mädge (22. 8.) und ein öffentlicher „Abend der Begegnung“ im Foyer des Lüneburger Museums (22. 8. ab 19 Uhr). Am 23. 08. Wird die Reisegruppe in der Leuphana-Universität empfangen – dem Ort, wo einst die Ersatztruppen der 110. I.D. stationiert waren. Für Freitag, 24.08., ist ein Besuch der Berufsbildenden Schule (BBS) Winsen mit Zeitzeug_innengesprächen geplant. Am 25.08. steht ein Ausflug nach Hamburg mit Hafenrundfahrt und Besuch des Gedenkortes „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ auf dem Programm, bevor die Gäste dann am 26. 8 über Frankfurt wieder zurück in ihre Heimat reisen.

 

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